Interview mit Carsten Wiebusch zum Geburtstagskonzert für Franz Liszt

Zuletzt, besser vor zwei Jahren, hatte Schumann Geburtstag. Der wurde konzertant von einigen Chören in der Christuskirche mit Chorwerken gefeiert. Nun ist es Liszt, dessen Geburtstag mit einem Konzert wiederum in der Christuskirche gefeiert wird. Besteht hier eine Tradition? Was war/ist die Idee, eine markante Zeitmarke im Konzert zu feiern?

C.W.: Unser Gedanke ist, solche Kompo- nisten zu feiern, die es verdient haben, dass man sich Ihrer auf diese Weise erinnert und bei denen es für uns selbst immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt.

Zum einen beschränkt sich die heutige Wahrnehmung von Liszt vielfach auf den Klaviervirtuosen, den Star, der er ja fraglos war, hingegen tritt sein Facettenreichtum als Komponist, sein Begriff des emanzi- pierten Künstlertypus in den Hintergrund. Von seiner Zeit ließ er sich sozusagen als Popstar feiern mit entsprechendem Groupiewesen, aber ebenso wahr ist, dass er durch seine Experimentierfreudigkeit, durch seine Auffassung von der Musik als umfassendem Kunstwerk, durch den Bogen, den er von Bach-Zitaten über jede Menge Bearbeitungen bis zu Goethevertonungen spannte, die nachgeborenen Musiker im engeren Sinne und den Künstlerbegriff im weiteren Sinne mitgeprägt hat. 

Zum anderen – dieses Schicksal teilt er mit Reger – hört man ihn oftmals gleichsam wie durch Milchglasscheibe und Zerrspiegel gleichzeitig auf ungeeigneten, undifferenziert klingenden Orgeln, in halligen Kirchen und in Interpretationen, die einseitig das Virtuose, Bombastische hervorheben. Wir wollten seine Vielschichtigkeit zeigen, seine kompositorische Janusköpfigkeit, wo neben der eher bekannten überwältigenden Geste eben auch die mystische, innengewandte Seite insbesondere der Chormusik steht. 

Wie finden wir diese Überlegungen in dem heutigen Programm wieder? Nach welchen Gesichtspunkten ist es zusammengestellt worden?

C.W.: Um Liszt in seinem umfas- senden Werk im oben skizzierten Sinne zu zeigen, haben wir uns folgende Beschränkungen auferlegt: 

Erstens wollten wir uns auf Chorwerke mit schlichter Orgel- begleitung und mit nicht wechselnder Besetzung konzentrieren, damit sich die Zuhörer in die Nuancen dieser Werke einhören können, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie feinsinnig und differenziert Liszt seine Musik ersonnen und gehört haben wollte. 

Für den Bereich der Orgelwerke wollten wir zweitens originale Orgel- kompositionen bringen, keine Klavierbearbeitungen für die Orgel - die lassen sich auf der Orgel fraglos virtuos wie auf dem Klavier und farblich reich wie ein Orchesterklang gestalten - um zu zeigen, wie Liszt die Orgel sozusagen aus der Versenkung hervorholte, in die sie seit Bachs Tagen geraten war, und wie er sie zu einem emanzipiertem Instrument machte. Seine großen Orgelwerke setzten ja auch eine Wechselwirkung in Gang, im Verlauf derer die Orgel als Instrument technische Weiterentwicklungen erfuhr, die seine Kompositionen voraussetzten und ermöglichten. 

Aber auch hier wieder wollten wir ihn nicht isoliert zeigen, sondern einmal im Rückgriff auf die Tradition, aus der heraus kommend er sich begreift (Weinen, Zittern, Klagen mit dem Zitat aus dem Crucifixus der h-moll Messe sowie  Präludium & Fuge über BACH), zum anderen aber auch in seinem Einfluss auf nachfolgende Musiker, wobei wir uns zum einen auf seinen Schüler Reubke und den Altersgenossen Ritter beschränkt haben und zum anderen mit Ligeti auf seine ungarischen Wurzeln anspielen. 

Wo finden wir die Verbindung zwischen Liszt, Reubke und Ritter sowie Ligeti? 

C.W.: Sicherlich im virtuosen Zugriff auf die Orgel, die nicht mehr länger als rein statisches Instrument für die Choralbegleitung begriffen wird, sondern als autonomes Instrument mit eigenem Charakter und genuin eigener Aussagekraft. Dabei war Reubke als Liszts Schüler, der leider schon mit 25 Jahren verstarb und nur dieses eine Werk hinterlassen hat, sehr stark von Liszt beeinflußt. Ritter wiederum, der das Stück Liszt widmete und damit den stark empfundenen Bezug selbst dokumentierte, wäre dieses Jahr auch 200 Jahre alt geworden. Bei Ligeti steht die gemeinsame Seelenverwandschaft in punkto Experimentierlust und der Offenheit für Formen im Vordergrund. 

Auf was sollen wir beim Hören der Chorstücke achten, was sollte idealerweise hörbar werden? 

C.W.: Bei den Chorstücken, mit denen wir ja das Filigrane und das Subtile im Werk Liszts zeigen wollen, ist sicherlich seine Textbehandlung hervorzuheben. Hier sind es z.B. die Gesten des Ringens, Bittens und des Überschwangs, die mit geradezu minimalistischen Mitteln musikalisch bildhaften Ausdruck erfahren. Hier kann man sehr schön verfolgen, wie sich Text und Musik bedingen. Ein Beispiel ist das Ave Maria, gleich am Anfang. Das Stück beginnt in a-moll und im dritten Takt erscheint der Engel der Maria, indem sich die Musik nach F-Dur wendet und sich gleichsam eine Tür öffnet.. In diesem Sinne ist der Text so wichtig, nichts hat Liszt dem Zufall überlassen, jede Silbe, jedes Wort hat Bedeutung, und zwar eben  auch und gerade musikalische Bedeutung, übersetzt in harmonischen Wendungen, in dynamischen Wechselspielen der Betonungen usw. Das ist wirklich eine reiche Fundgrube für den, der Spaß am Suchen und Finden hat.
Erfragt und aufgezeichnet von Jost Ammon